Der Sinn von Religion, praktisch
Bevor Pavel die ganz große Achterbahn fährt, sich dem Kampf mit dem Titanischen und dem Satanischen widmet, die ahrimanische Sinnverleugnung ad Deum führt und die luziferische Sinnlosigkeit gleich mit, macht er zu Beginn seiner 4. Vorlesung „Sakramente und Riten“ den Sinn von Religion an einem Beispiel deutlich, mit einem Vers, den jeder orthodoxe Christ kennen dürfte, der schon mal jemanden zu Grabe getragen hat [vgl. Sedalen des Kanons der Panychida]:
Als Wehklage über dem Grabe singen wir „Halleluja“…
Der ganze tiefe Sinn von Religiosität liegt nämlich in dieser Zeile, über die nur Wenige überhaupt längere Zeit nachdenken würden. Nicht so Pavel …
Der Schriftsteller Sergej Fudel (1900 – 1977) erinnert sich
… dass ich mit meinem Vater [Erzpriester Josif Fudel] die Nikolskij-Gasse entlanggehe und ihm erzähle, was ich darüber gehört hatte, wie Florenskij die Worte „Als Wehklage über dem Grabe singen wir ‚Halleluja‘“ aus dem Totengedenken erklärt: „Das Klagen über dem Grab verwandeln wir in das Lied der Siegesfeier“. Und ich weiß noch, wie sich das Gesicht des Vaters freudig aufhellte: „Ja, ja, wie wahr er das doch ausgedrückt hat.“ Florenskij hatte die Fähigkeit, das Gold in von Jahrhunderten verschlissenen, für Kupfergeld gehaltenen Münzen offenzulegen. Für mich persönlich hatte dieses Gespräch eine besondere Bedeutung, weil es im Herbst 1918, nur drei Monate vor meines Vaters Tod stattfand. Als einer der ersten Priester war Florenskij danach zu uns gekommen und hielt das Totengedenken. Ich erinnere mich an seine gekrümmte Figur im Talar am Sarg stehend, an seine leise Stimme mit den Worten „Herr Gott der Geister und jeglichen Fleisches …“
(P. A. Florenskij – Pro et contra, 2. Aufl., Sankt Petersburg 2001, S. 137)
Darum geht es: den Affekt, den Aufruhr der Gefühle, den Ansturm der Leidenschaft NICHT zu unterdrücken, NICHT unausgesprochen im Herzen zu vergraben:
Unsere Trauer wird nicht negiert, nicht fortgenommen oder verboten oder in das Unterbewusste verdrängt, nein. Dies würde bedeuten, die Seele zu verletzen, sie zu verhärten, begleitet sie doch den Leichenzug mit einem Stein auf dem Herzen. Es würde bedeuten, den dumpfen Schmerz des Tieres dem Tier zu lassen – den Menschen Tier bleiben zu lassen. Es würde das Herz in den Untergrund verdammen.
Aber auch nicht, die Gefühle mit sich allein zu lassen, bis sie den Menschen, seine Seele, seinen Lebensmut erdrücken.
Notwendig ist anderes: die Trauer am Grabe zu verwandeln in höchste geistliche Freude, den kurz bevorstehenden Ausbruch von Gotteslästerung zu wenden in Sein Lob, und den am Boden der Trauer und Verzweiflung aufkeimenden Fluch in Segen, das „möge es verhüten“ in ein „möge es so sein“ – mit einem Wort, die Grabesklage in das „Halleluja“ über dem Grabe.
Die unmenschliche, undurchschaubare, unverwandelte Finsternis der Verzweiflung wird zur menschlichen, wenn sie erleuchtet wird, sich verwandelt und in den Impuls übergeht, dem Allerhöchsten zu lobsingen. Die undurchdringliche Nebelschicht über dem Herzen lichtet sich.
Und die Kampfansage:
Es ist Heilung der Seele nötig, Heilung ihrer Verletzungen, ihres Traumas. Vielleicht hat jetzt der eine oder andere gerade gedacht: Was soll Freud an dieser Stelle? Aber warum nicht auch Freud, wenn es passt? An dieser Stelle übrigens nicht Freud, sondern die Orthodoxe Kirche.
Das ist es, was Religiosität dem Menschen einst gab und was gute orthodoxe Gottesdienste dem Gläubigen immer noch geben und was erklärt, warum es bei uns manchmal noch richtig voll ist im Gotteshaus.
θεράπευσε τα τραύματα της ψυχής μου, Κύριε!
heißt es in der 4. Ode des Kanons vor der Heiligen Kommunion, und selbst wer kein Wort Griechisch kann, versteht das: „Therapiere die Traumata meiner Psyche, Herr!“ Oder in ganz deutschem Deutsch: Heile, o Herr, die Wunden meiner Seele!
Nichts Neues unter der Sonne also.
Aber die Christen hierzulande haben das Feld seelischer Gesundung den Psychotherapeuten überlassen, nicht ohne Not – und im Osten gehen immer mehr denselben Weg. Dabei ist es die absolute Kernkompetenz von Kult: den Affekt, den Ausbruch des Titanischen, nicht sich selber zu überlassen, auch nicht zu unterdrücken, sondern ihn zu veredeln mit Worten, in denen zweitausend Jahre Gnadenerfahrung der Menschheit stecken, ihn zu vergeistigen und zu vollenden. Nicht Tiere sollen wir sein, sondern Götter.
Das erklärt mit etwas Nachdenken vieles, was hier keinen Platz mehr hat: warum wir unsere Verstorbenen nicht verstecken, sondern mitten in der Kirche aufbahren. Warum wir am neunten Tag und am vierzigsten und an vielen besonderen Tagen im Kirchenjahr der Verstorbenen gedenken, in jeder Liturgie zu ihrem Andenken kleine Brotstückchen in Christi Blut geben…
Wer hier noch dabei ist, darf in Florenskijs “Kultphilosophie” mit auf die große Achterbahn: wo der ganz große Affekt, der Aufruhr, das Toben der Heiden (Ps 2) erst zur Ruhe kommt, wenn ihm der Höchste Sinn in Person entgegentritt – und wieso erst nachdem jener Ihn ans Kreuz genagelt hat.