
Pfeiler? Sockel? Egal – Lesen!
Hundert Jahre später: Das religionsphilosophische Hauptwerk Pavel Florenskijs ist in deutsch auf dem Markt!
Ein Überblick
Seit dieser Woche ist es nun Wirklichkeit: Der deutsche Leser kann, und das auch noch zum Freundschaftspreis, das bekannteste Werk des russischen Priesters und Universalgelehrten Pavel Florenskij in seine Büchersammlung aufnehmen.
Der Übersetzer Dr. Bernd Groth hat ganze Arbeit geleistet und eine wissenschaftliche Übertragung vorgelegt, die den Text durch eine Vielzahl von Hinweisen und Kommentaren auch für diejenigen Leser transparent macht, die mit der russischen Religion und Philosophie nicht so vertraut sind.
Nur heißt es nicht mehr “Pfeiler und Grundfeste“, sondern philologisch korrekt:
Säule und Sockel der Wahrheit
Versuch einer orthodoxen Theodizee in zwölf Briefen

Ja, es ist ein “dickes Buch” geworden – schließlich passte auch das Original mit seinen über 800 Seiten schon kaum zwischen zwei Buchdeckel. Allerdings ist ein gutes Drittel davon Anhang. In diesen Anhang hat Florenskij Beweisführungen für einige seiner Thesen, Darstellungen der verwendeten Methoden, Ausflüge in die Mathematik und andere Künste verlagert, und Anmerkungen, Anmerkungen, Anmerkungen … Hier hat Herr Groth behutsam gekürzt, wo das ohne Substanzverlust möglich war.
Der Hauptteil liest sich dadurch flüssig, allerdings sollte man der Bezeichnung der zwölf Hauptkapitel als “Briefe” nicht allzusehr vertrauen – schließlich versteckt sich dahinter seine Magisterarbeit. In Teilen wird es also schon auch theoretisch, und dass Florenskij Mathematik studiert hat, bevor er sich der Geistlichen Akademie und der Religion zuwandte, wird zuweilen durchaus deutlich. Immer wieder aber finden sich auch fast schon poetische Passagen, Gedankengespräche mit seinem Altvater (Abba Isidor) und seinem Busenfreund, Mitstudenten und späteren Schwager S. Troickij. Schließlich geht es – und das mag für eine “Theodizee” erstaunen – viel um Freundschaft, Liebe und Eifersucht. Auch die russische Schwermut kommt nicht zu kurz, denn Florenskij verarbeitet seine eigene Erfahrung des Schweigens Gottes und des Ringens um Gewissheit.
Denn darum geht es im Kern.
Florenskij hat selbst sein Leben als dreigeteilt empfunden. Die erste Stufe, die Katharsis (Reinigung) verband er mit seiner vorakademischen Zeit und dem Mathestudium 😉 , die zweite – die Mathesis, die Lernphase, die Läuterung – spiegelt er in “Säule und Sockel” wider.
Daher geht es darin auch (noch) nicht um die Praxis, die er als “Anthropodizee” bezeichnet – den mystischen Aufstieg des Menschen zu Gott und die Verbindung mit Ihm; diese Praxis sollte einem zweiten Teil von “Säule und Sockel” vorbehalten sein: der später aus Vorlesungsskripten kompilierten “Philosophie des Kults”, die derzeit noch ihrer deutschsprachigen Veröffentlichung entgegensieht.
Nun, die Theodizee: Florenskij teilt mit uns seinen Kampf mit der epoche (wie er es nennt), dem Zwischenzustand der unbefriedigten Begierde Gottes, des Aufrichtens und Einreißens immer neuer Idole … bis zuletzt die “Grundfeste [der ‘Sockel’] der Wahrheit” gefunden ist: die Kirche, der lebendige Leib Christi, die Wahrheit als Person, als Hypostase, als Gemeinschaft der Heiligen.
Florenskijs Rechtfertigung Gottes ist auf Wahrheit bezogen, nicht auf Gut und Böse. Das göttliche Geschenk der Wahrheit (Christus) ist der sichere Hafen der suchenden Vernunft, denn niemals kann diese allein die Wahrheit als wahr erkennen.
Atemberaubende (andere sagen: spekulative) Gedankenflüge durch die Präexistenz der Kirche, die (demnach ebenso präexistente?) Sophia, das sophianische Sein der Gottesmutter usw. führen hin zu den wahrscheinlich ergreifendsten Kapiteln/Briefen des Buches – denen über Freundschaft und Eifersucht.
J e t z t steht die Seele vor der Wahl: sich entweder in die Sünde zu versenken, die
die Person zerfrisst, oder aber . . . sich mit himmlischer Schönheit zu schmücken.
Eine “orthodoxe” Einordnung fällt schwer: Gewiss ist Florenskij nicht “liberal”, seine Abneigung gegen jeden “Kompromiss mit der Wahrheit” ist stets präsent, seine Hassliebe zu Kant spricht eine deutliche Sprache. Dennoch wird man ihn schwer als “Buchgelehrten und Pharisäer” einstufen können – zu eindrucksvoll ist sein Plädoyer für die Entscheidungsfreiheit des Menschen, sein Hohelied an die Liebe und Freundschaft, sein Leben.
Unbedingt lesen!
