Eine Vita
Der nachfolgende Artikel entstand aus Anlass einer Vater Pavel gewidmeten Ausstellung im Dezember 2012, der russische Originalartikel von Julia Makovejčuk ist auf pravmir.ru hier zu finden. Der Artikel vermittelt einen guten Überblick über die erstaunliche Vielseitigkeit von Vater Pavel, der zuweilen schon mal als “russischer Leonardo” bezeichnet wird.
Pavel Florenskij wurde am 9. Januar 1882 in der Nähe der Stadt Yewlax (heute Aserbaidschan) geboren. Die Eltern gaben dem Kind seinen Namen zu Ehren des heiligen Paulus.
Florenskijs Mutter Olga (Salomija) Pavlovna Florenskaja, geboren Saparova (1859 – 1951), entstammt väterlicherseits dem alten Geschlecht der armenischen Fürsten Melik-Begljarov, seitens ihrer Mutter dem bekannten georgischen Stamm der Paataschwilis. Florenskijs Vater war Alexander Florenskij (1850 – 1908), Sohn eines Militärarztes, und Absolvent des Instituts für Verkehrswege in St. Petersburg. Er baute Straßen und Brücken im Kaukasus; war ein bedeutender Ingenieur, später Stellvertreter des Gebietsleiters Kaukasus für Verkehrswege, mit dem Amt eines wirklichen Staatsrats.
Zurückhaltend, verschlossen, stolz und schüchtern in der Manifestation von Gefühlen, übertrieben schamvoll vor mir seit der Kindheit – als sie Kinder gebar und aufzog, erschien sie mir von den ersten Tagen meines Existenzbewusstseins an als besonderes, sozusagen lebendiges Naturphänomen – sorgend, gebärend, wohltätig, doch zugleich entfernt und unzugänglich.
Pavel über seine Mutter
Die Ehe der Florenskijs zeichnete sich durch erstaunliche Harmonie aus, die Priorität des Familiären gegenüber allem anderen wurde nie in Frage gestellt. Pavels Schwestern und Brüder Julia, Elisabeth, Alexander, Olga, Raisa und Andrej wurden alle nach ihm geboren. Die edle Herkunft der Eltern war nie Gesprächsgegenstand – auf Fragen nach dem Stammbaum erhielt der kleine Pavel ausweichende Antworten. Später sollte ihm durch Forschung in Archiven und Büchern die, wie er schrieb, “genealogische Wiederherstellung der Vergangenheit” gelingen.
Im Herbst 1882 zog die Familie nach Tiflis. Die gastfreundliche Stadt zeichnete sich durch eine Verbindung antiker Wurzeln mit turbulentem weltlichem Leben, von hartem Handwerkeralltag und multinationaler Buntheit aus. Der kleine Pavel wurde in einem alten Gotteshaus am Fuße des Berges Mtazminda getauft, in der Nähe des Grabes von Alexander Griboedov.
Der Familien- und Kinderkult ist auch typisch für Pavel Florenskij selbst. 1910 heiratete er die Grundschullehrerin Anna Michajlovna, geborene Giacintova (1889-1973). Seine Auserwählte stammte aus der Provinz Rjasan, wuchs in der Familie des Grundbesitzers Shilovskij auf. In der frühen Kindheit verlor sie ihren Vater, half ihrer Mutter bei der Erziehung von fünf Brüdern. Nach der Heirat zogen die Florenskijs nach Sergiev Posad. Anna war eine bescheidene, liebevolle, äußerst fürsorgliche Frau und Mutter von fünf Kindern – Vasilij, Kirill, Michail, Olga und Maria (Tinatin). Zusammen mit ihren jüngeren Kindern begleitete Anna Michajlovna Pavel in die Verbannung nach Nizhnij Novgorod und in den Fernen Osten in die Stadt Skokorodino. Sie war es, die das Haus in Sergiev Posad und das handschriftliche Erbe von Pavel Florenskij bewahrte.
Im Alter von 17 Jahren wendet sich der junge Florenskij tief und aufrichtig der Religion zu. Die Eltern überzeugen ihren Sohn jedoch, eine universitäre Ausbildung für eine künftige wissenschaftliche Tätigkeit zu durchlaufen. Trotz seiner Meinungsverschiedenheiten mit ihnen und seiner allgemeinen weltanschaulichen Krise beendet Pavel das Gymnasium als Bester, mit einer Goldmedaille.
1900 tritt Pavel in die Abteilung für Physik und Mathematik der Universität Moskau ein. Zu seinen Lehrern gehören Koryphäen der Wissenschaft, wie Professor N.V. Bugaev, N.E. Žukovskij, S. N. Trubeckoj, L.M. Lopatin, L. K. Lachtin. Florenskij beabsichtigt ein großes philosophisches und mathematisches Werk, “Die Unstetigkeit als Element der Weltanschauung”. Gleichzeitig nimmt er an einem philosophischen Seminar teil, das sich mit Kunstgeschichte beschäftigt.
Von der Breite seiner Interessen zeugt auch seine Kenntnis der Sprachen – der alten, der europäischen und kaukasischen.
In seinem letzten Studienjahr an der Universität nähert sich Florenskij den Kreisen der Moskauer und Petersburger Symbolisten an.
Im Frühjahr 1904 schließt Pavel, einer der talentiertesten, vielversprechendsten Absolventen, mit Auszeichnung an der Universität ab. Die Professoren Šukovskij und Lachtin bieten ihm an, seine wissenschaftliche Arbeit fortzusetzen, aber der Absolvent wählt einen anderen Weg. Im September 1904 wird er Student an der Moskauer Geistlichen Akademie. Er trifft einen Altvater – den Bischof Antonij (Florensov). Nachdem er das Katechumenat durchlaufen hat, bittet der junge Mann um den Segen, das Mönchsgelübde abzulegen, doch der erfahrene Starez rät Pavel, die Moskauer Geistliche Akademie zu beenden.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist die Moskauer Geistliche Akademie (bis 1814 “Slawisch-Griechisch-Lateinische Akademie”) das größte Bildungszentrum in Russland, und dies seit mehr als drei Jahrhunderten. Aus ihr waren Lomonosov, der Mathematiker Magnitskij, der Dichter und Diplomat Antioch Kantemir, und viele andere Persönlichkeiten der russischen Aufklärung hervorgegangen. Die Akademie befand sich in Sergiev Posad, innerhalb der Klostermauern der Klosters Sergius-Dreifaltigkeits-Lavra. Hier vereinen sich die besten kirchentheologischen und kulturhistorischen Traditionen – der geistliche Boden, auf dem Pavel Florenskij als orthodoxer Denker aufwächst.
Es gibt einen subtilen Charme der Lavra, Tag für Tag, an dem man sich in diese geschlossene Welt einlebt. Und dieser Charme, wärmend wie eine zarte Erinnerung an die Kindheit, macht der Lavra die Seele anverwandt, so dass alle anderen Orte von nun an fremd werden, und sie wird zur wahren Heimat, die ihre Söhne zu sich ruft, sobald diese irgendwo abseits sind. Ja, die reichsten Eindrücke abseits werden schnell trostlos und leer, wenn das Haus des Heiligen Sergius ruft. Die Unwiderstehlichkeit dieses Charmes liegt darin begründet, dass er zutiefst organisch ist. Es gibt hier nicht nur Ästhetik, sondern auch einen Sinn für Geschichte, und ein Gefühl der Seele des Volkes, und die Wahrnehmung der russischen Staatlichkeit als Ganzes, und eine schwer zu erklärende, aber unumstößliche Gewissheit: gerade hier in der Lavra bildet sich, obwohl es nicht klar ist wie, das, was im höchsten Sinne Öffentliche Meinung genannt wird. Lebendiger als anderswo schlägt hier der Puls der russischen Geschichte. Hier kommen ihre Nervenenden, Gefühle und Muskelfasern am dichtesten zusammen, hier ist Russland als Ganzes zu spüren.
in: P. Florenskij: Die Sergius-Dreifaltigkeits-Lavra und Russland, 1918.
Nach dem erfolgreichen Abschluss der Moskauer Geistlichen Akademie im Jahr 1908 wurde P. A. Florenskij eingeladen, dort als Dozent für Philosophie zu bleiben. Später wurde er Professor, Lehrstuhlleiter für Philosophie und Herausgeber der Fachzeitschrift Theologisches Bulletin (Bogoslovskij vestnik).. Der neue Herausgeber überraschte die Leser mit seinem “Modernismus” – der Veröffentlichung von Artikeln über Zahlentheorie und andere mathematische Probleme, die seiner Meinung nach die Grundlage für die kreative Entwicklung der orthodoxen Theologie bilden könnten.
Vr. Pavel machte es sich zur Aufgabe, menschliches Wissen von falscher Philosophie zu reinigen und ein System „ganzheitlicher Weltanschauung“ aufzubauen, das christliche Theologie, Philosophie, Wissenschaft und Kunst umfasst. Verkörperung dieser Aufgabe waren seine philosophischen und theologischen Werke “Die universellen menschlichen Wurzeln des Idealismus” (1909), “Pfeiler und Grundfeste der Wahrheit” (1914), “Am Wendepunkt des Denkens” (1910-1929).
Florenskij lehrte 10 Jahre lang Philosophiegeschichte (1908-1918). Die erste Vorlesung “Die universellen Wurzeln des Idealismus” widmete er der religiösen Interpretation des Weltbildes von Platon. A. F. Losev, der den Beitrag Florenskijs zur Erforschung des Platonismus untersuchte, schrieb: “Er gab das Konzept des Platonismus in einer Tiefe und Feinheit wieder, die alles übertrifft, was ich jemals über Platon gelesen habe.”
In der zweiten Vorlesung „Die ersten Schritte der Philosophie“ bewies Florenskij überzeugend, dass die antike Philosophie kein primitives Phänomen, sondern Ausdruck einer komplexen und verfeinerten Kultur ist, die die Kultur der Renaissance vorwegnimmt. Florenskij betrachtete die antike Weltanschauung als synthetisch und versuchte, die Ideen der antiken griechischen Philosophen nicht nur aus philosophischer, sondern auch aus naturwissenschaftlicher Sicht zu erklären und zu rechtfertigen, wobei er sich auf die Daten der modernen Mathematik und Astronomie, der Physik und Chemie, Geologie und Meteorologie stützte.
P. A. Florenskij wurde bei der Herausbildung religiöser und philosophischer Ansichten von dem großen russischen Philosophen V. S. Solovjev beeinflusst. Unter Hinweis auf die geistige Gemeinschaft der Weltreligionen betonte er, dass das Christentum und insbesondere die Orthodoxie die Fülle der Offenbarung verkörpern. Dabei führt der einzige Weg zur Erkenntnis Gottes über innere spirituelle Erfahrung.
Die Kirchlichkeit Florenskijs war unaufdringlich. Das Zentrum seines Weltverständnisses war die Idee von Sophia, der Weisheit Gottes, die als schöpferische Liebe des Schöpfers zur Schöpfung verstanden wurde. Die Tradition der Verehrung von Sophia, deren Erbe Florenskij war, geht auf das Alte Testament zurück. Die Lehre von Sophia spiegelt sich auch in den großen Philosophen der Antike wider – bei Platon, Heraklit, Pythagoras und Aristoteles. Die Nachfolger von Florenskij in dieser Hinsicht sind Vr. Sergij Bulgakov, L. P. Karsavin, A. F. Losev, S. S. Averincev. „Sophia ist der Anfang, in dem Gott Himmel und Erde geschaffen hat“ – diese Definition der Weisheit Gottes wurde von P. A. Florenskij gegeben.
Schritte auf dem Lebensweg von Florenskij waren die christlichen Tugenden – Demut, Glaube, Hoffnung, Liebe und die “freien Künste des Lernens” – Grammatik, Rhetorik, Logik, Mathematik, Geometrie, Musik, Astronomie, Poesie, Philosophie und Theologie. Die Philosophie oder, wie Florenskij sagte, eine wahre Liebe zur Weisheit wurde für ihn zum Symbol der Liebe zur Wahrheit und zum Synonym für Theologie.
Das Schaffen Florenskijs eröffnete dem orthodoxen Denken neue Horizonte und verband die russische Theologie des frühen 20. Jahrhunderts mit dessen modernen Formen. Basierend auf innerer spiritueller Erfahrung untersuchte Vr. Pavel die komplexesten theologischen Fragen. Seine philosophischen und theologischen Ansichten, einschließlich der Sophiologie, bewahren bis heute ihre Attraktivität: Im Gegensatz zur rationalen Scholastik weisen sie auf eine Art und Weise hin, Gott nicht in logischen Überlegungen zu verstehen, sondern in überbewusster Kontemplation und Empfindung, in einem erleuchteten Verstand und einem vergeistigten Herzen .
Dank Vr. Pavel ist in der Geschichte des russischen theologischen Denkens ein rein christliches Verständnis der Rolle und Bedeutung von Kreativität und Kultur möglich geworden. Die Frucht der wahren Menschlichkeit, die “Knospe der Kultur”, wächst aus dem Korn des Kultes, – betonte Vr. Pavel Florenskij. Die christliche Kultur kann zu Recht als Gewissenskultur betrachtet werden, denn sie bestätigt nicht nur die Schönheit, sondern vor allem das Gute und Wahre. Sowohl die Kleriker als auch die Laien sind aufgerufen, sich an die moralische Dimension der Kultur zu erinnern. Florenskij war zutiefst davon überzeugt, dass spirituelle Kultur und Askese Synonyme sind, und bestätigte diese Wahrheit durch seine gesamte Lebensleistung.
1922 erschien das Buch “Imaginäre Größen in der Geometrie (Mnimosti v Geometrii)” von P. A. Florenskij. Mit mathematischen Extrapolationen und Paradoxien der Relativitätstheorie von A. Einstein, basierend auf der Geometrie von N. Lobačevskij, bewies er darin die Existenz einer übernatürlichen Welt, deren Mittelpunkt Gott ist. Erzpriester Alexander Men betonte, Florenskij sei gleichzeitig und unabhängig von A. A. Fridman (1888–1925) auf die Idee des gekrümmten Raums und die Theorie eines expandierenden Universums gekommen.
Im letzten Absatz des Buches werden das kopernikanische und das ptolemäische (in Dantes Göttlicher Komödie verkörperte) Weltbild nebeneinander dargestellt und Argumente zur Verteidigung der Wahrheit des letzteren vorgebracht. Florenskij schreibt über die Umkehrbarkeit der Zeit in höheren Welten und über die Möglichkeit eines Durchbruchs in diese Welt jenseits der Schwelle der Überlichtgeschwindigkeit. Das Buch war einer der Gründe, Florenskij des Mystizismus zu beschuldigen und ihn zu verfolgen.
In seiner Arbeit “Makrokosmos und Mikrokosmos” (1922) entwickelt Pavel Florenskij das Konzept der “idealen Verwandtschaft”, der Vernetzung und gegenseitigen Abhängigkeit von Welt und Mensch:
Der Mensch ist die Summe der Welt, reduziert auf deren Konspekt; die Welt ist die Entfaltung des Menschen, seine Projektion.
Basierend auf der Mengenlehre des großen Mathematikers George Cantor (1845–1918), den Florenskij hoch schätzte, umriss er klar die Bandbreite der Fragen nach numerischen Invarianten und die Theorie algebraischer Formen, bei denen die numerische Diskontinuität der Form eine charakteristische Kategorie des Denkens darstellt. Florenskij umriss die Aufgabe, die Zahl als gnostische Form zu untersuchen und den inneren Rhythmus des Kosmos, seine pythagoreische Musik, d. h. die Musik der Himmelssphären, einzufangen.
Pythagoras bezeichnete Gott mit der Zahl 1, Materie mit 2, das Universum mit 12, als dem Produkt von Ternär und Quartär ist (3 × 4); daher die Ansicht des Universums als bestehend aus drei getrennten Welten, die durch vier schrittweise Modifikationen miteinander verbunden sind und sich in zwölf Sphären entfalten.
Pythagoras betrachtete die Hierarchie der Geister als geometrische Regression; die Wesen, aus denen diese besteht, werden als harmonische Beziehungen dargestellt, und gemäß den Gesetzen der Musik errichtete er Weltgesetze. Später betrachtete Platon diese Wesen als Ideen und Typen. In dessen Nachfolge nannte der christliche Theologe, neoplatonische Philosoph Sinesius (5. Jhd. n. Chr.), der die Lehren von Pythagoras mit den Lehren von Platon verband, Gott “Zahl der Zahlen” und “Idee der Ideen”.
Florenskij entwickelt zwei Algorithmen – die Reduktion und Potenzierung von Zahlen (im Rahmen der sogenannten theosophischen Zahlenreduktion) und die Entwicklung mathematischer Begründungen für die numerische Symbolik in der Arbeit “Zahlenreduktion” (1906; 1916):
Die Zahl wird nicht nur durch einen Punkt, sondern auch durch ein Polygon dargestellt. Mittels Darstellung einer Zahl durch ein Polygon können Sie sozusagen deren interne Natur herausfinden und die Zahl unter die Lupe nehmen. Der Knospenpunkt offenbart seine Potenzen im Blütenpolygon, und was vorher im Punkt nur spekulativ verfügbar war, wird nun intuitiv-sichtbar gemacht.
In dem Artikel “Pythagoräische Zahlen” (1922), der die Phänomene des Diskreten in der Physik analysiert, kommt P. A. Florenskij zu dem Schluss, dass “die Wissenschaft zur pythagoräischen Idee der Ausdrückbarkeit von allem in ganzen Zahlen zurückkehrt”, d. h. zur pythagoräischen Mystik.
Die Fotografie nahm im Leben Florenskijs einen außerordentlich wichtigen Platz ein. Bilder der Akropolis, antike Statuen und Flachreliefs zierten Bücherregale in seinem Büro – von der Kindheit bis in die letzten Tage war das Foto für Florenskij ein Symbol der Ewigkeit.
Bereits als 15-jähriger Junge interessierte sich Florenskij während einer Deutschlandreise sehr für physikalische Geräte und insbesondere für Fotoausrüstung. In einem Brief an seinen Vater vom 13. Juni 1897 aus Dresden spricht er von dem Wunsch, “eine Maschine von besonderem Design zu erwerben, die Röntgenbilder liefert”. So erinnert sich Florenskij an seine Reise nach Georgien im Sommer 1899:
Ich bin den ganzen Tag durch die Berge geklettert, habe fotografiert, Skizzen angefertigt, meine Beobachtungen aufgezeichnet, und abends habe ich alles in Ordnung gebracht … ich musste die Platten unter großen Schwierigkeiten in den Apparat legen, bei Licht.
Einige dieser Fotos sind bis heute erhalten.
In den Briefen und Tagebüchern von P. A. Florenskij finden sich zahlreiche Hinweise auf Fotografien seiner Familie und Freunde, die er selbst in Kindheit und Jugend angefertigt hat. In seinen reifen Jahren, als er seinen Stammbaum studierte, kopierte er liebevoll und sorgfältig alte Fotografien. Als Student an der Moskauer Universität, der sich nach seiner Familie sehnte, schrieb Florenskij im September 1900 an seinen Vater:
Trost spenden nur die Fotos, die an den Zimmerwänden hängen.
Und in einem Brief an Julias Schwester im September 1903 sagte Florenskij, dass er aus Dankbarkeit für die Negative, die er dem Verlag zur Verfügung gestellt hatte, eine Zeitschrift für Fotografie erhalten habe. In der Gefängniszelle auf Solovki, wo Vr. Pavel Florenskij seine letzten Monate verbrachte, begleiteten ihn Fotografien seiner Familie und Freunde. Nach dem Abendgebet sah er sich diese Bilder an und wünschte in Gedanken seinen Nächsten Ruhe und Seelenfrieden.
Die Fotografie nimmt einen bedeutenden Platz in Florenskijs visionärem Diskurs über die ferne Zukunft ein, wenn Menschen lernen, “das Universum, seine Abschnitte senkrecht zur Zeitrichtung, augenblicklich zu erfassen … und sozusagen sofortige Fotos der Welt zu machen”. In der Vorlesung „Analyse von Raum und Zeit in künstlerischen und grafischen Arbeiten“ (1924–1925) widmete Florenskij der Fotografie große Aufmerksamkeit:
Auch von einer Fotografie, die kein Kunstwerk ist, fordern wir, dass sie dem Gesetz der Frontalität folgt;
Die Momentaufnahme enthält in Bezug auf die Zeit keinen Widerspruch, und hat gerade deshalb nichts mit den spezifisch wahrgenommenen und vorstellbaren Bildern der Realität zu tun; sie ist reine Abstraktion.
Ein Ausschnitt aus dem natürlichen Raum, ein Foto als ein Stück Raum, kann nicht anders, als über seine Grenzen hinaus zu weisen, über die Grenzen seines Rahmens, weil es ein Teil ist, der mechanisch vom Größeren getrennt wurde.
schrieb Florenskij in “Die umgekehrte Perspektive” . Er verstand die Grenzen der Fotografie, als einem Handwerk, im Gegensatz zur Malerei als Kunst:
Eine Momentaufnahme oder das Bild, das bei Beleuchtung mit einem Blitz entsteht, zeigt etwas völlig anderes als das, was der Künstler darstellt, und dann stellt sich heraus, dass ein einzelner Eindruck den Prozess stoppt, sein Differential erzeugt, die Gesamtwahrnehmung aber integriert diese Unterschiede.
Der Künstler L. F. Zhegin (1892–1969) erinnerte sich daran, dass Florenskij seine Bilder wie durch ein bestimmtes Prisma oder die Linse einer Kamera bewertete:
Ihr Gemälde macht einen “thermischen” Eindruck, das heißt einen wärmenden. Eine solchen Eindruck vermitteln Objekte, die mit einem Infrarotfilter fotografiert wurden.
Die Kamera für Aufnahmen im ultravioletten Teil des Spektrums über die Grenzen des sichtbaren Teils hinaus wurde von Florenskij erfunden und 1930 zusammen mit G. Ja. Arjakas patentiert (“Gerät zum Fotografieren in unsichtbaren Strahlen”). Dieses kompakte Gerät ermöglichte es, Bilder in unsichtbaren Strahlen ohne elektrische Stromquelle in völliger Dunkelheit und geräuschlos aufzunehmen. Nach den Unterlagen der Saratower Filiale des russischen Staatsarchivs für wissenschaftliche und technische Dokumentation hieß das Gerät “Aidograph” (“der das Unsichtbare malt”).
Professor N. V. Alexandrov, der von 1930 bis 1933 am All-Unions-Institut für Elektrotechnik mit Florenskij zusammengearbeitet hatte, erinnerte sich:
Pavel Alexandrovičs Wissen war übernatürlich … Er mochte Mikrofotografie sehr. Zu dieser Zeit hatten wir die besten Mikroskope und Mikrofotoapparate des Landes. Pavel Alexandrovič hat selbst dünne Schnitte gemacht. Und er liebte auch die Fotografie.
In seinen Briefen verwendet Vr. Pavel häufig Vokabeln und Samples aus der Welt der Fotografie, und dies in den wichtigsten Momenten seines Lebens. Ein bemerkenswertes Beispiel ist ein Brief aus dem Lager Solovki (4.-5. Juli 1936):
Ich saß einmal in meinem Zimmer an einem großen Tisch vor dem Fenster. Es war noch hell. Ich schrieb etwas. Irgendwie habe ich dann das Bewusstsein dafür verloren und vergessen, dass ich weit weg von Tiflis bin, dass ich schon erwachsen bin. Mein Vater saß links neben mir und schaute aufmerksam zu, wie es oft der Fall war, als ich am Gymnasium war, ohne etwas zu sagen. Es war mir so vertraut, dass ich nicht besonders darauf achtete, ich fühlte mich einfach nur gut. Plötzlich wurde mir klar, dass ich nicht in Tiflis war, sondern in Posad. Ich hob meinen Kopf und sah meinen Vater an. Ich sah ihn ganz klar.
Er sah mich an und wartete anscheinend darauf, dass ich verstand, dass er es war und dass es erstaunlich war, und als er überzeugt war, wurde sein Bild plötzlich blass, wie ausgebleicht, und verschwand – er ging nicht weg, er verschwamm nicht, aber er verlor schnell seine Realität. wie ein ausgeblichenes Foto. Einige Stunden später erhielt ich ein Telegramm, das mir den Tod des Vaters mitteilte.
Eines der wichtigsten Ergebnisse in Florenskijs Schaffen war die Rettung der historischen Heiligtümer und kulturellen Werte des Sergius-Dreifaltigkeits-Klosters vor der Zerstörung durch die Bolschewiki, das er als “Mittelpunkt der Anatomie der Kultur des ganzen Volkes” bezeichnete. Dank seiner Mitarbeit in der “Kommission für den Schutz der Kunstdenkmäler und Antiquitäten der Sergius-Dreifaltigkeits-Lavra” ist dieses nationale Erbe bis heute erhalten.
Das Projekt des Lavra-Museums, das P. A. Florenskij im Dezember 1918 zusammen mit P. N. Kapterev zusammenstellte, sah vor, dass die Lavra zu einem zusammenhängenden, lebendigen Museum werden sollte und als funktionierendes Kloster erhalten bleibt. Das Museum sollte die Geschichte und das Leben der Lavra in Gemälden, Zeichnungen und Fotografien umfassend präsentieren.
Florenskij war ein vortrefflicher Kenner der Kunst, erbetrachtete sie subtil und liebte sie, insbesondere die Ikonenmalerei und die Musik. Die „Dreifaltigkeit“ von Andrei Rublev war für ihn der beste Beweis für die Existenz Gottes, Mozart war sein Lieblingskomponist. Florenskij konnte die Askese eines Priesters und eines Wissenschaftlers mit der Inspiration des Dichters verbinden. Seine poetische Begabung entwickelte sich von der gnostischen zur kirchenliturgischen Symbolik, die bereits auf den Seiten seiner ersten Gedichtsammlung „In ewigem Azur“ (1907) zu spüren ist.
In seiner Arbeit „Liturgie als Synthese der Künste“ (1918) ging P. A. Florenskij auf die Frage der Liturgie (d.h. der Gottesdienste) als Manifestation einer „höheren Synthese verschiedener künstlerischer Aktivitäten“ ein – einer Synthese der Kunst, die zurückreicht zur antiken Tragödie, die Poesie, Musik und Choreografie verbindet. Florenskij verstand ihre Gemeinsamkeit und offenbarte ihre ganzheitliche Wirkung und Wahrnehmung bis hin zur „Originalität der Choreografie“, die sich in den gemessenen Bewegungen der Geistlichen zeigt, beim Heraustreten aus dem Altar, beim Beweihräuchern des Altartisches, bei Prozessionen.. Er nahm den Gottesdienst als lebendigen und ganzheitlichen Organismus wahr, dessen reales Leben in den den Formen der orthodoxen Kirchenkunst atmete, welche auf russischem Boden ihre eigenen nationalen Traditionen hat, wie zum Beispiel eine mehrstufige Ikonostase, die berühmten Gesänge usw.
In Vorlesungen beim VChuTeMas (Kunsthochschule) mit dem Titel „Analyse der Räumlichkeit in künstlerischen und grafischen Werken“ (1921–1924) argumentierte P. A. Florenskij:
Es gibt keine undurchdringliche Grenze zwischen der bildenden Kunst, die als die Kunst des Raumes bekannt ist, und der Musik in ihren verschiedenen Formen, die als Kunst der reinen Zeit bekannt ist.
Im schöpferischen Erbe von Vr. Pavel stehen seine poetischen Werke an herausgehobener Stelle. Das maßgebliche “Handbuch der russischen Literatur” (London, 1985) sagt über ihn: “Wissenschaftler, Religionsphilosoph, Folklorist und Dichter”, und in der Liste der Werke von Florenskij steht die Gedichtsammlung “In ewigem Azur” (1907) an erster Stelle. In den Archiven der Familie Florenskij werden Dutzende seiner Gedichte und einige Poeme aufbewahrt: “Weißer Stein” (1904), “Eschatologisches Mosaik” (1905), “Oro” (1934). Viele seiner Gedichte sind Gebete – sowohl inhaltlich als auch formal.
Ein Teil des dichterischen Erbes von Vr. Pavel wurde von V. A. Nikitin im Almanach “Tag der Poesie 1987” veröffentlicht, sowie auch in der Zeitschrift “Theaterleben (Teatralnaja Žizn’)” (1988, Nr. 17) und in der Zeitschrift “Literarisches Georgien” (1989, Nr. 3). Im Vorwort zu diesen Veröffentlichungen wurde eine gegenseitige Beeinflussung der „theurgischen“ Symbolik von Andrej Belyj und Pavel Florenskij vermutet. Die Korrespondenz der beiden Dichter, die aufbewahrt und später veröffentlicht wurde (dt.: “Nicht anders als über die Seele des anderen”, Edition Tertium 1994), bestätigte diese Annahme. Es ist interessant festzustellen, dass die russische Folklore, insbesondere die Volkstümlichkeit, einen spürbaren Einfluss auf Florenskijs Poesie hatte.
In den Jahren 1921–1922, in der tragischen Periode der russischen Geschichte, als die Verfolgung von Christen durch die bolschewistische Führung ihren Höhepunkt zu erreichen schien – Ikonen, Schreine und andere Relikte begann man gnadenlos zu zerstören – schrieb P. A. Florenskij ein theologisches und kunstkritisches Werk: Die Ikonostase (dt: Verlag Urachhaus, 3. Aufl. 1996) – eine Apologie der Ikone. Vr. Pavel begründete überzeugend die Notwendigkeit, den Kanon der Ikonenmalerei zu bewahren, der auf dem konziliaren Geist der Kirche, auf der kirchlichen Tradition, und auf der spirituellen Erfahrung der heiligen Ikonenmaler als Garantie für die Wahrheit des Bildes basiert.
Der Hauptzweck der Ikone ist es, ein Fenster in eine andere Welt zu sein, geistig und ewig, göttlich schön. Nur in einem solchen Zusammenhang kann man den geflügelten, weithin bekannten Florenskij-Spruch verstehen:
Es gibt die Dreifaltigkeit von Rublev, also gibt es Gott.
Nur in diesem Zusammenhang kann die Bedeutung der Ikone in der Struktur des Gotteshauses und im Mysterium der Liturgie richtig verstanden werden. Dies ist viel mehr als das Verstehen der Ikone als „Krücke der Spiritualität“. Keine Krücken, sondern ein Fenster zu höheren Sphären. Das Fenster drückt die Idee des Eindringens aus, als Symbol des heiligen Raums, der von übernatürlichem Licht durchdrungen wird.
Fenster in mittelalterlichen Kathedralen mit farbigen Buntglasfenstern, die ihre Geheimnisse bis heute bewahren, sollten die Gläubigen der Schönheit des himmlischen Jerusalems näher bringen. Ein Fenster kann viele Formen annehmen. Dies ist zuallererst ein Quadrat – aber nicht das „schwarze Quadrat“ von K. Malevič . Es ist vielmehr ein Quadrat in Notenschrift, ein mittelalterlicher „Brevis“, die längste Note in der Kirchenmusik. Im Christentum ist ein Quadrat ein Symbol für die 4 Elemente, die nicht dem Tod unterliegen.
Es ist allgemein anerkannt, dass es unmöglich ist, das mathematische Problem der Quadratur eines Kreises zu lösen, d.h. ein Quadrat aus einem Kreis zu bilden, das dessen Fläche entspricht. Laut Florenskij ist diese Aufgabe in der Ikone gelöst. Die Ikone ist ein mystisches Quadrat, das dem Kreis gleicht, weil es ein Fenster zu einer anderen Welt ist. Und sie ist ein Auge, das von einer anderen Welt hierher schaut, ein Symbol der göttlichen Allwissenheit, von der ein Strahlenglanz ausgeht.
Die älteste Tochter Olga absolvierte die Fakultät für Biologie der Moskauer Universität (1946). Während des Großen Vaterländischen Krieges war sie eine Soldatin des Sanitätskommandos und bewachte das Gebäude der Moskauer Universität. 1946 heiratete sie den späteren Dirigenten und Kirchenkomponisten Sergej Trubačev. Ihr weiteres Leben galt der Erziehung von drei Kindern.. .
Maria absolvierte Kurse für Chemie, war langjährig in der Zagorsker Farben- und Lackfabrik tätig, nahm an geologischen Expeditionen teil. Ihr ganzes Leben lebte sie mit ihrer Mutter A. M. Florenskaja in Sergiev Posad.
Kirill leitete das Labor für Vergleichende Planetologie (als dessen Gründer) am Institut für Geochemie und Analytische Chemie “V. I. Vernadskij” derAkademie der Wissenschaften der UdSSR. Er studierte Mondgestein; ein Krater auf der Mondrückseite und ein Mineral sind nach ihm benannt. Durch seine Bemühungen und seine Autorität wurde in den 1960-er Jahren eine systematische Veröffentlichung der Werke von Vr. Pavel Florenskij begonnen, die von den Enkelkindern – P. V. Florenskij, Abt Andronik (Trubachev), M. S. Trubacheva, T. V. Florenskaja und anderen – fortgesetzt wurde.
Hinweis:
Für die Verwendung des Materials in Druckerzeugnissen ist die Zustimmung von pravmir erforderlich.